Der einsamste Monat im Jahr: Novemberblues

Ich atme. Das ist in diesen Tagen oft das einzige, das bleibt. Der November ist jedes Jahr von neuem eine Herausforderung für mich, denn er ist nicht nur grau und hektisch, sondern er ist der Monat des ultimativen Verlassenwerdens. Für mich jedenfalls. Seit 1998, da starb mein Vater mit 46 Jahren. Ich war 12.

Und es ist erstaunlich, wie stark meine Überzeugung sich auf mein Leben auswirkt. Denn der November ist auch oft der Monat, in dem ich Menschen und Dinge abstoße, lieber allein bin. In dem mich Menschen meiden, das ist zumindest mein Eindruck. Schön ist das nicht, aber es passt zur Stimmung. Und immer frage ich mich: Allein? Einsam? Beides? Und: Was macht das jetzt mit mir?

Flashback – Bilder und Gedanken in Endlosschleife

Ich kann mich an jede Einzelheit dieses Tages im November 1998 erinnern. Wie ich aus der Schule kam und meine Mutter saß in der Küche. Ich hab es sofort gesehen, dass etwas nicht stimmte. Manchmal, wenn ich Geschichten über Trauer höre oder lese, dann nicke ich unwillkürlich. Dieser Detailreichtum, an den sich Menschen auch Jahre später noch erinnern, ist erstaunlich.

Klar, jetzt nach über 20 Jahren ist die Geschichte, die ich mir selbst erzähle, sicher nicht mehr annähernd real, sondern konstruiert. Mein Gehirn hat sie eingefärbt, verändert, durch das immer-wieder-erzählen manifestiert. Aber sie bleibt. Sie ist Teil meiner Geschichte und sie ist verknüpft mit ganz vielen weiteren Erinnerungs-Schnipseln, die mir noch geblieben sind.

Es lief Mulan im Kino

Ereignisse und Geschichte – ich weiß nicht mehr viel von dem, was 1998 passiert ist. Aber ich weiß, dass im November 98 Disneys „Mulan“ im Kino lief. Mein Bruder kam später als ich nach Hause und er muss die Situation noch schneller einsortiert haben als ich. Denn ich weinte. Wir saßen da, in der Küche, und ich weinte. Dabei war es eigentlich keine Überraschung, dass mein Vater sterben würde. Aber dieses Endgültige hatte mich umgehauen.

Mein Bruder wollte nicht reden. Bis heute nicht. Er redete vielleicht mit anderen Menschen darüber, mit mir nicht. Vielleicht hat er nie verstanden, wie wichtig das gewesen wäre. Oder aber er konnte es einfach nicht. Er glaubte, dass Ablenkung die beste Wahl sei in dieser Situation. Er schlug vor, ins Kino zu gehen. Das machten wir auch. Daher ist der November für mich über drei Ecken mit Kino verknüpft.

Es ist so lange her, es schmerzt nicht mehr, wenn ich darüber spreche. Aber es schmerzt jetzt, da ich es aufschreibe. Vielleicht ist es so realer, nicht so flüchtig. Du fehlst mir, Papa, ich hätte dich gern wirklich kennengelernt, nicht nur als Kind. Ich glaub, wir hätten uns gut verstanden.

14 Jahre später: Kein Disney, aber dieselbe Ohnmacht

Mein Opa ging 2012. Bei ihm war es nicht abzusehen, er fiel einfach um und war nicht mehr da. Einen Tag vorher war ich noch dort, aber ich hatte nur wenig Zeit. „Wann sehe ich dich denn mal länger, mein Stern?“, fragte er mich. Ich sagte: „Wenn ich es schaffe, dann schau ich am Sonntag noch mal vorbei!“ Woher sollte ich auch wissen, dass das nicht gehen würde.

Ich habe keine Ahnung, welcher Disney-Film 2012 im Kino lief, denn es spielte keine Rolle. Aber ich erinnere mich noch an einen Kinobesuch mit meinem Opa. Das war ironischerweise 1998, da haben wir uns „Der Prinz von Ägypten“ angesehen. Das Witzigste an diesem Ausflug war aber, dass wir mit der Straßenbahn gefahren sind. Mein Opa war sonst immer mit dem Auto unterwegs und er „surfte“ in der Bahn – für meinen Bruder und mich ein einmaliger Anblick. Verknüpfte Erinnerung eben.

Wie wichtig mein Opa für die Familie war, wurde uns allen vielleicht so richtig klar, als er nicht mehr da war. Manche Menschen sind eben einfach da. Unaufgeregt, klar und unerschütterlich. Du bist zu früh gegangen. Ich vermisse dich, Opa.

Wichtige Männer in meinem Leben: Sie gehen im November

Vielleicht ist es Zufall, aber in meinem Leben gehen die wichtigen Männer im November. Und alles in mir schreit nach Verbindlichkeit. Nach etwas, das bleibt. Etwas zum Festhalten. Ich bin ja nun wirklich nicht die Frau, die Abhängigkeiten schätzt. Aber ich kann in diesem grauen Monat noch schlechter mit Unverbindlichkeit umgehen als sonst.

Und der natürliche Reflex: Ich gehe vorher. Kann man mir jetzt sagen, dass ich nen Knacks oder nen Knall habe, das stimmt vielleicht auch. Aber Beständigkeit ist etwas, das in diesem Monat noch wichtiger ist als sonst schon.

Situationen, die mir heikel erscheinen, löse ich auf, indem ich gehe. Einige meiner Freunde kennen das und bleiben. Andere nicht. So ist dieser Prozess auf der einen Seite reinigend und befreiend, auf der anderen löscht er Gelegenheiten aus. Ich weiß das und trotzdem kann ich nicht aus meiner Haut. Aber es kommen wieder bessere Monate. Immerhin gibt es noch 11 weitere im Jahr.

Zwei wichtige Männer sind noch da: Der große und der kleine

Was mache ich jetzt mit diesem einsamen November? Ich versuche mich an dem festzuhalten, was noch da ist. Der einzige Mann, der konstant noch Teil meines Lebens ist, ist mein ältester Bruder. Und vielleicht weiß er gar nicht, wie wichtig das ist, dass er noch da ist. Und dass er zum Jahresende meistens hier bei uns in Bielefeld ist. Dass er hilft, wo er kann. Und dass er immer da ist, wenn man ihn braucht.

Er ist einer von diesen wichtigen Menschen, die man um drei Uhr morgens anrufen kann und die sich ins Auto setzen, um vorbeizukommen. Davon brauchen wir alle mindestens einen. Ich hätte gern zwei. Ein Backup sozusagen. Vielleicht kommt das ja irgendwann.

Und dann ist da ja noch dieser wundervolle kleine Mann, der mich nicht verlässt und den ich nicht verlasse. Wir halten uns so fest wir können, auch wenn wir streiten oder uns mal nicht abkönnen. Er kann meine Novemberblues-Stimmung nicht verstehen, das ist gut so. Aber er versteht es, wenn ich sage, dass ich manchmal traurig bin. Vielleicht ganz besonders am 23. November. Da wäre mein Vater 67 Jahre alt geworden. Zwei Tage später ist sein 21. Todestag.

Beständige Grüße
Anna

Bild: privat.

12 Antworten auf „Der einsamste Monat im Jahr: Novemberblues“

  1. Liebe Anna, loslassen ist immer eine große Aufgabe.
    Mein Verhältnis zum Tod ist ein gutes. Wenn man selbst so knapp vor Schluss war, ist der Tod nicht mehr schlimm.
    Nicht, dass die Angst davor, wenn man so spürt dass man sterblich ist, nicht wirklich schlimm ist.
    Das Sterben selbst ist wirklich keine schlimme Sache. Für einen selbst. Für die, die bleiben sieht das anders aus.
    Da ist Angst, Unwissenheit, Leere.
    Aber eigentlich nicht wirklich.
    Als meine Oma vor ein paar Jahren gestorben ist… 2016?… Da war ich kurz nach ihrem Tod da.
    Und ich habe gesehen, dass sie nicht mehr da ist.
    Ihre Seele war erlöst.
    Das Leben hier (endlich?) vorbei.
    Meine Oma war der Mensch, der mich immer am meisten überrascht hat. Sie ging mit dem Tod mit einer leichten Selbstverständlichkeit um die mir sonst nie begegnet ist. Und sie hat ihn oft gesehen.
    Meine Oma war sicher der wichtigste Mensch für mich.
    Und gerade deshalb hab ich mich so für sie gefreut!
    Ich trage sie nach wie vor in meinem Herzen.
    Sie lebt weil sie nie gestorben ist. Ihre Anwesenheit ist spürbar für mich. Sie lebt in mir und durch mich weiter. Jede. Erinnerungen an ihr Lachen lässt mich glücklicher sein.
    Ja, nicht alle Menschen sind so lange da wie wir glauben sie zu brauchen.
    Ja, der Tod ist für die, die da bleiben müssen nicht schön.
    Aber ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Liebe die Menschen verbindet für immer da ist.

    Liebe stirbt nicht.

    Und das, liebe Anna, ist für mich das Geheimnis des Lebens.

    Wir sind stark, wenn wir die sind die wir sein sollen.
    Hat uns das Mulan nicht gezeigt?

    Wenn du traurig sein willst, liebe Anna, dann sei es.

    Aber alles was du beschrieben hast ist deine Entscheidung. Dein Beschluss.

    Und Entscheidungen kann man revidieren, WENN sie nicht mehr für uns passen

    Herzliche Grüße

    1. Liebe Rani,

      danke für dein Feedback – und ja, natürlich, alle meine Gedanken kann ich beeinflussen. Nur fällt es mal leichter und mal schwerer. Mal sind die Themen präsent, weil sie nicht geklärt wurden. Mal ist die Beschäftigung damit heilsam und mal macht sie mich fertig. Ich habe über den Tod lange nicht geweint. Das habe ich damals gemacht. Heute ist es eher das, was ich verpasst habe (und es sind noch ein paar andere Gefühle am Start, aber diesen Aspekt habe ich nicht im Artikel eingebunden).

      Ja, der Tod ist nichts Schlimmes, er gehört dazu. Und wenn ein Leben abgeschlossen ist, dann ist es auch okay, wenn Menschen gehen. Dann ist es auch für die, die bleiben, nicht schlimm. Das zumindest glaube ich.

      Es war übrigens gestern auch noch einmal Thema in dem Vortrag von Dieter Lange auf der Rednernacht von Gedankentanken. Das ist ja auch immer spannend, auf welchen Wegen die Themen dann zu dir kommen, wenn du dich gerade damit beschäftigst.

      Und ja, die guten Erinnerungen bleiben. Und die Liebe auch. Dinge passieren. Und wir finden Wege, damit umzugehen. Meiner ist in diesen Tagen schreiben. Und mit euch darüber diskutieren.

      Danke
      Anna

  2. Ich finde deinen Artikel auch sehr anrührend und herzbewegend, liebe Anna. Ich kenne das auch, dass aus unseren Erfahrungen und Erlebnissen und den Assoziationen, die wir damit verknüpfen, bestimmte Muster entstehen, die Einfluss auf unser Leben haben. Mein Herzensmann tut sich noch heute etwas schwer damit, seinen Geburtstag zu feiern. Er hat seinen Vater mit 11 verloren und das war kurz vor seinem 12. Geburtstag gewesen.

    Ich wünsche dir alles Gute!
    Liebe Grüße

    Dorit

    1. Oh man, ja das ist natürlich noch blöder, wenn man dann ein eigentlich freudiges Ereignis mit seinem Thema so überschattet. Ich arbeite dran, diese Einflüsse aufzudecken und vielleicht gelingt es mir ja in der Zukunft, dieses Thema aufzulösen. Ich wünsche es mir – und auch deinem Herzensmann. Schön, dass ihr darüber auch im Austausch seid und du ihn so gut kennst 🙂

      Danke für deine Worte
      Anna

  3. Liebe Anna, Deine Zeilen berühren mich sehr. Die Zusammenhänge so zu erkennen und darüber so zu schreiben, sind ein wichtiger Schritt für Dich und Deinen Umgang damit heute.
    Ich hing bis vor zwei Jahren immer in einer Herbst Melancholie. Nur wusste ich nie, warum das so ist bzw. überhaupt dass es so ist. Bis ich dann eine Bilder Serie mit „Die Ketten meiner Oma“ machte… Da löste es sich dann auf. Ich weiß nicht genau, was dahinter steckte, aber ich vermute auch Themen der transgenerationalen Weitergabe von Erfahrungen und Traumata. Warum schreibe ich das? Ich denke, der Novemberblues ist auch ein kollektives Thema, was viele kennen. Und ich denke, das auch zu sehen, lässt uns nicht ganz so allein fühlen. Herzliche Grüße zu Dir, Doreen

    1. Doreen, das hilft mir gerade sehr. Indem du es als kollektives Thema beschreibst, gibst du dem Text noch eine weitere Dimension dazu, das fühlt sich gut an für mich.

      Ja, wir erben ja leider auch eine ganze Menge Erfahrungen, die nicht aufgearbeitet wurden. Umso wichtiger ist es mir, meine eigenen Themen zu sortieren – so wie du ja auch.

      Danke für den wertvollen Austausch hier und an allen anderen Stellen. Schön, dass wir uns begegnet sind!

      Anna

    2. Liebe Anna, Ich danke Dir für Deine Anregungen, unseren Austausch. Danke. Ich freue mich, dass ich Eine weitere Ebene eröffnen konnte. Der Blick auf die kollektiven und gesellschaftlichen Zusammenhänge wird mir selbst manchmal zu viel, aber er hat auch viel ermutigendes, denn wir sind damit nicht allein. In diesem Sinne verbundene Grüße, Doreen

  4. Liebe Anna,

    dieser wundervolle, persönliche Beitrag hat mich tief berührt. Mir ist, als könne ich deinen Schmerz mitfühlen, als würde ich genau verstehen, wie es dir im November geht. An zwei Stellen sind mir die Tränen gekommen – einerseits aus Mitgefühl, andererseits, weil ich diese Tage – die mir irgendwann bevorstehen – so sehr fürchte. Sehr berührend geschrieben und ebenso nachvollziehbar.

    Darüber sprechen ist eine wichtige Sache. Aber solche Gefühle aufzuschreiben ist für mich noch ein Schritt weiter. Wie du sagst, weniger flüchtig. Indem man das, was einen selbst bewegt, in Worten festhält, die vor einem auf dem Bildschirm stehen, macht man es beständig, sichtbar, unausweichlich. Realer kann es kaum werden. Schreiben kann so heilsam sein.

    Zum Glück endet der November bald. Letztes Jahr hatte ich um diese Zeit eine kleine Depression. Dieses Jahr zum Glück nicht, aber die Vergangenheit wirft ihren drohenden Schatten bis in mein Jetzt. Darum hat mich dein Artikel besonders berührt, weil ich zwar aus anderen Gründen eine ähnliche Schwere fühle… Gut, dass der Dezember mit seinen vielen zauberhaften Lichtern die Melancholie und die Düsternis für uns beendet.

    Alles Liebe für dich und danke, dass du deine Geschichte mit mir geteilt hast.

    Liebe Grüße
    Lisa

    1. Liebe Lisa,

      danke für deine Gedanken zu meinem Artikel und für dein Feedback. Seit einiger Zeit befolge ich das Prinzip #radikaleEhrlichkeit. Es gibt keine Fragen mehr, auf die ich ausweiche, es sei denn, ich kenne die Antwort nicht oder kann sie nicht formulieren. Das hier ist demnach nicht nur heilsam, sondern auch eine Aufforderung. Für mich ist es gerade gut, darüber in einen Diskurs zu treten, den ich jahrelang nicht führen wollte. Gar nicht so sehr über Depression, aber über Anteile, die wir nicht mögen oder die uns beeinflussen, über die wir Bescheid wissen und sie aber (noch) nicht verändern. Vielleicht ist es (noch) zu schön, traurig zu sein.

      Auf einen heilsamen Dezember
      Anna

  5. Liebe Anna
    Sehr berührend und danke fürs Teilen.
    Du transportierst Deine Gefühle sehr gut und ich fühle mit Dir.

    Trotzdem kann ich mir kaum vorstellen wie traumatisch es ist so früh den Vater zu verlieren. Eine gute Freundin von mir hat ihre Mutter verloren und bei ihr sehe ich, wie sich das durch das Leben zieht. Es gehört einfach zu ihr dazu.
    Herzliche Grüße
    Inge

    1. Liebe Inge,

      ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie traumatisch das wirklich war. Es ist einfach ein Teil von mir und ich denke nicht darüber nach, was hätte sein können, wenn es anders gelaufen wäre. Ich wäre ein anderer Mensch – aber das muss ja nicht besser sein.

      Die Auswirkungen auf meine Außenwelt ist halt das, was mich gerade bewegt. Sowohl das Bild, als auch die dazugehörigen Emotionen.

      Danke für deine Worte und gute Gedanken für dich und deine Freundin.

      Anna

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